Heavy Metal darf nicht fehlen!
Motivationssong Still Counting von Volbeat
Speerwurf-Europameisterin Victoria Hudson zählt längst. zu den Gewinnerinnen des Jahres. Doch mit dem EM-Gold von Rom will sie sich noch nicht zufriedengeben: „Paris ist der wichtigste Wettkampf der letzten drei Jahre. Da will jeder abliefern, auch ich.“ Eine neuer Speer mit dem klingenden Namen Valhalla steht bereit. Aber ob der im „Stade de France“ auch tatsächlich zum Einsatz kommt, wird erst im allerletzten Moment entschieden.
„Die Goldmedaille von Rom ist Vergangenheit. Was im Juni war, interessiert in Paris keinen mehr. Wir beginnen in Paris wieder bei null“, gibt sich Victoria Hudson pragmatisch. Die Erinnerungen ans Olympia-Debüt in Tokio sind gemischt. 2021 musste sich die 25-jährige Niederösterreicherin mit Platz 22 begnügen. Der Ellbogen schmerzte und der Abwurf funktionierte leidlich. Auch das Selbstvertrauen war im Keller. Jetzt, mit 28 Jahren, zählt die Nummer 3 der Welt-Jahresbestenliste zu den seriösen Medaillenkandidatinnen. „Mich kann im Moment kaum etwas erschüttern. Ich bin bereit und fühle mich top-fit.“
Am Abend vor dem Wettkampf ist in Vickys Zimmer Ordnung Programm, jeder Handgriff sitzt. „Es gehört zum Ritual, dass ich nach dem Abendessen alle Sachen auflege, möglichst parallel zueinander, um sie am Tag X schnell griffbereit zu haben.“ Die Olympia-Startnummer, das Wettkampf-Dress von Erima, ein Baumharz, damit der Griff bestens sitzt, auch wenn „Vicky“ ins Schwitzen kommt, eine Schere, Tape für die Finger, eine Trinkflasche, ein Handtuch und der Rucksack. Stück für Stück, immer gleich angeordnet.
„Fünf- bis zehnmal gehe ich den Wettkampf und alle Situationen in Gedanken durch. Wenn die Sonne auf die Tartanbahn brennt, brauche ich Sonnenschutz und Kappe, falls es regnet, müssen Regenschuhe und ein Handtuch in Griffweite sein.“ Je ordentlicher die ÖLV-Speerwurf-Rekordhalterin ihre Sachen parat hat, desto weniger Hektik kann am Wettkampftag aufkommen.
Die Ruhe vor dem Sturm ist längst Routine, die Umsetzung tausendmal geprobt. „Die Kunst liegt darin, am Tag X ja nicht zu viel zu tun und gleichzeitig auch nicht zu viel über den Wettkampf nachzudenken.“ Fantasy-Romane lesen, Kohlehydrate essen, ein bisschen Dehnen, ein Verlängerter mit Betreuer:innen und Teamkolleg:innen, dann wieder lesen, fernsehen oder schlafen…
Die erprobte Wettkämpferin Victoria Hudson kommt erst knapp drei Stunden vor dem Startschuss zum Vorschein, spätestens wenn sie die Kopfhörer aufsetzt und ihren aktuellen Lieblingssong auflegt: Still Counting von der dänischen Heavy-Metal-Band Volbeat. „Your are a liar, a cheater, you're a fool. I am not alone.“ Der Text ist provokant: Du bist ein Lügner, ein Betrüger, ein Trottel…
Der Sound dröhnt im Vorschlaghammer-Rhythmus. Volbeat steht für maximale Lautstärke und schnelle Beats. „Genau die richtige Mischung, um für den Abend in Fahrt zu kommen“, lächelt Vicky. Die Dänen rocken, sie nickt im Takt mit. Gesprochen wird jetzt nur mehr das Nötigste.
Das Aufwärm-Programm im Stadion ist auf 30 Minuten beschränkt. Die Stimmung auf den Rängen rückt zusehends in den Hintergrund, der Tunnelblick geht an. „Die letzten Sekunden vor dem ersten Durchgang spielen sich wie in Trance ab. Ich kontrolliere noch, ob ich genug Magnesium auf den Fingern habe, schnalle meinen Gürtel enger. Denken ist in dieser Phase verpönt. Du blendest alles aus, reagierst intuitiv. Nur so bist du impulsiv genug. Wer denkt, ist automatisch nicht schnell genug und verliert.“ Soweit die Theorie.
„Gemma, Vicky“, schreit Trainer Gregor Högler in Reihe eins. Sein Schützling hört nichts davon. Der Anlauf hat begonnen: knapp 20 Meter, acht normale Schritte, beginnend mit dem linken Fuß, danach ein kurzer Zwischenschritt und drei sogenannte Impulsschritte, um den Wurf entsprechend auslösen zu können. „Ich merke im Normalfall schon beim Abwurf, ob der Speer über die 60-m-Marke segelt. Alles, in der Nähe von 64 m und darüber hinaus, ist ein guter Wurf. 65 + ein sehr guter.“
Von einer Olympia-Medaille sprechen Victoria Hudson und Coach Gregor Högler im Vorfeld des größten Sportereignisses der Welt kaum bis gar nicht. „Zum einen ist das Starterfeld von Paris mit dem von der EM in Rom nicht vergleichbar. Die Top-3 der WM von Budapest 2023 kommen allesamt aus Asien und Ozeanien. Zum anderen sind seit damals knapp sechs Wochen vergangen. „Wir haben nochmals an der Technik und an der Schnellkraft gefeilt. Vicky sollte noch ein paar Prozent stärker sein. Sie ist gerüstet. Aber das gilt für fünf bis acht andere Werferinnen auch“, glaubt der Coach.
Eine Frage wollen die beiden erst im letzten Moment, in den Tagen zwischen Speerwurf-Qualifikation und Finale klären: Und zwar jene, zu welchem Speer die Europameisterin greifen soll? Högler tendiert zu einem skandinavischen Fabrikat der Firma Nordic, Produktname: Vallhalla. Die Spitze aus Stahl, der Rest aus Carbon. Farben: gelb-lila. Ein High-Tech- und High-Performance-Speer der neuesten Generation. Hudson hat bis jetzt bei allen wichtigen Wettkämpfen ihrer Karriere mit einem tschechischen Nemeth-Speer geworfen. Gut 400 Euro billiger und bereits 11 Jahre alt. „Ich war 17, als mir mein Verein, der SV Schwechat LA, einen Speer schenkte. Diesem Speer bin ich bis heute treu geblieben. Er war bei allen Großereignissen mit dabei.“
Ob der Nemeth-Speer seinen zweiten Olympia-Auftritt tatsächlich erlebt, bleibt abzuwarten. Der Valhalla fliegt im Normalfall weiter, verzeiht andererseits auch keine Fehler. „Da brauchst du viel Speed beim Abwurf und eine sehr gute Technik“, weiß Victoria Hudson. „Mittlerweile bin ich nicht mehr so stark auf den Nemeth-Speer fixiert, kann mir vorstellen, bei Olympia auch den neuen Speer einzusetzen. Der ist zuletzt im Training und auch bei Wettkämpfen schon sehr gut geflogen.“ Das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen.